Biomechanische Aspekte zum Iliosakralgelenk

Anatomie

Das Iliosakralgelenk als Diarthro-Amphiarthrose setzt sich ventral aus einer mit hyalinem und fibrösem Knorpel besetzten Region und  dorsal aus einem syndesmotischen Bereich zusammen. Obwohl die dreieckförmige Struktur des Os sakrum an eine vermeintliche knöcherne Einkeilung zwischen den Darmbeinschaufeln im Sinne eines "Schlußsteines“ denken läßt, liegt das nicht vor. Vielmehr kommt den Bändern eine überragende stabilisierende Bedeutung zu, denn ohne diese würde das Os sakrum im aufrechten Stand aus dem Becken fallen. Das wenig formschlüssige IIliosakralgelenk stellt daher hohe Ansprüche an die muskulären und ligamentären stabilisierenden Elemente.

Iliosakralgelenk

Das Kreuzbein ist gelenkig mit den Beckenschaufeln verbunden. Das Iliosakralgelenk weist eine langstreckige L-förmige Gelenkfläche auf. Die Kontaktfläche zwischen der iliakalen und sakralen Gelenkfläche umfasst 80 % (Geudvert). Der Neigungswinkel in Transversalebene beträgt 75°-85° und in Sagitalebene 12°-20° (Hefzey).  Der Neigungswinkel der Basis ossis ischii zur Senkrechten beträgt im Durchschnitt 35°- 45° (47°Staubesand). Das ISG-Gelenk verändert sich im Lauf des Alters. In der Kindheit sind die Gelenkflächen noch flach und entwickeln im Alter eine individuell unterschiedliche höckrige Oberfläche, was letztlich der Stabilisierung des Gelenkes dient. Dabei finden sich konvexe Oberflächen mehr auf der Iliumseite (Vleeming 1990a). Mit zunehmendem Alter verformt sich die Knorpeloberfläche und der Reibungskoeffizient steigt (Vleeming 1990b).

Bandstrukturen

Aus biomechanische Sicht bestehen folgende Grundsätze:

  1. Bandstrukturen dienen allein der Aufnahme von Zug- und Scherkräften.
  2. Die Größe des Querschnittes der Bandstrukturen steht proportional mit der Stärke der Zug- und Scherkräfte in Verbindung.
  3. Die Insertionspunkte der Bandstruktur beeinflussen den Kraftverlauf.
  4. Bandverbindungen, die physischerseits nicht genutzt werden, degenerieren.

Demnach kann von den vorhandenen Bandstrukturen des Beckens auf die Stärke und die Kraftverteilung geschlossen werden.

Abbildung 1 Bandapparat des Beckens (Darstellung mit freundlicher Genehmigung Sebastian Bong)

Abbildung 1 Bandapparat des Beckens (Darstellung mit freundlicher Genehmigung Sebastian Bong)

Die sacroiliakale Stabilität wird hauptsächlich durch den anterioren und interossären sacroiliakalen Bandapparat gesichert (Simonian, Vrahas). Der sakroiliakale Bandkomplex wird untergliedert in intrinsische und extrinsische Bänder. Die intrinsischen Bänder umfassen Ligg. sakroiliaca anterior, Ligg. sakroiliaca interossea (Achsenband) und Ligg. sakroiliaca posterior (Abb1.). Die extrinsischen Bänder liegen außerhalb des eigentlichen ISG’s und setzen sich aus Lig. sacrospinale und Lig. sacrotuberale zusammen. Das Os sakrum wird in der kaudalen Hälfte über die sacrospinalen und sacrotuberalen Bänder fixiert. Aufgrund ihres Faserverlaufes kommt ihnen biomechanisch eine „Stoßdämpferfunktion“ zu (Hammer). Die Bandstrukturen des Beckenbodens limitieren das Ausmaß der Nutation (s.h. unten) im Iliosakralgelenk, sind maßgeblich am vertikalen Lastabtrag beteiligt und tragen zur elastischen Abfederung des Oberkörpers bei (Böhme).

Kraftbelastung

Im Stand beträgt der Beckenneigungswinkel 60°. Dabei wird die Körperlast über das Iliosakralgelenk, über die Symphyse und der Außenseite des Acetabulum auf den Femurkopf übertragen. Im Sitzen reduziert sich der Neigungswinkel auf 30° und die Kraftvektoren laufen über das Iliosakralgelenk auf die Tubera ischiadica.
Das Os sakrum stellt den zentralen Pfeiler der Kraftübertragung von dem Oberkörper auf das Becken dar.
Die Kräfte werden von der Wirbelsäule über die Sakralwirbel vor allem über die Kortikalis der Massa lateralis auf das Iliosakralgelenk und die Darmbeinschaufel übertragen. Die Spongiosa innerhalb der Ala lateralis dient als „Abstandshalter“ zwischen den Kortikalis (Ulrich).

Die Kräfte werden sowohl über eine synostotische Verbindung als auch über eine Bandverbindung zum Os ilium übertragen. Dabei erfolgt die Lastübertragung zu 30% über den vorderen Beckenring und zu 70 % über den hinteren.
Beim beidbeinigen Stand wird die Last von der Wirbelsäule gleichförmig auf das Sakrum übergeleitet. Bereits beim Gehen wechseln die Belastungsspitzen. Das Standbein trägt das Gewicht des Körpers während das Schwungbein wie ein Lastarm die Massa lateralis unter eine erhebliche Spannung setzt (Linström). Die Kräfte, die beim Gehen auf die Seite des Os sakrum des Standbeines einwirken, betragen das 1,45-2,07 fache des normalen Körpergewichtes und steigen um das 400-500% beim Treppe steigen und langsamen Joggen gegenüber der Belastung, die beim beidbeinigen Stand auftreten (Khoo).

Bewegungsumfang

In der Radiostereometrie konnte Egund nachweisen, dass der größte Bewegungsumfang im Iliosakralgelenk in Sagitalebene stattfindet. Die Hauptbewegungsrichtung ist eine Nutation (Nickbewegung).  Das Ausmaß der Nutation wird limitiert durch die Geometrie der Gelenkfläche, der facettenreichen Gelenkoberfläche und die Bänder. Die Nutation umfasst folgende Werte: ventrale-dorsale  Kippung 2° und  Gleitbewegung von 2 mm (jeweils in Sagitalebene).

Abbildung 2 Nutation - Bewegungsausmaße im Iliosakralgelenk

Abbildung 2 Nutation - Bewegungsausmaße im Iliosakralgelenk

Die Literaturrecherche dokumentierte folgendes Verteilungsmuster:

Autor

Jahr

Dorso -ventrale Kippung

Sashin

1930

Clayson

1962

Sturesson

1976

2,5 +/- 0,5°

Reynolds

1980

Miller

1987

3,2°

Jacob

1995

1,7°

Wilke

1997

Es bestehen keine Geschlechtsunterschiede oder abweichende Werte post partum oder nach Manipulation (Tullberg). Die helikoidalen Rotationsachsen verlaufen schräg posterior außerhalb des Os sakrum in Höhe der Ligg. sakroiliaca interossea (Jacob). Nicht nur, dass beide Gelenke ihre eigene Achse haben, auch impliziert die Bewegung des einen ISG’s eine Bewegung im Kontralateralen.

Der Nutation wirken die Beckenbodenbänder entgegen, die sich bei dem lumbalen – sakralen Krafteintritt anspannen und dem kaudalen Teil des Os sakrum eine Festigkeit verleihen.

Die vertebropelvine Kraftübertragung erfolgt über die Massa lateralis, die bei der Nutation quasi wie eine Achse fungieren. Bei ausreichender Knochenkonsistenz werden die Kräfte auf die Gelenkflächen und die wesentlichen Stabilisatoren nämlich die anterioren sakroiliakalen Bänder übertragen. Nicht nur die Bänder sondern auch die geringe Beweglichkeit im ISG an sich fungieren als eine Art „Stoßdämpfer“. Die Stoßdämpferfunktion kommt nur bei erhaltender Beweglichkeit im ISG zum Einsatz.

Verfasser: Dr. Jürgen Bong

Literatur

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Clayson SJ, Newton IM, Debeucc DF et al. Evaluation of mobility of hip and lumbar vertebrae in normal young women Arch Phys Med Rehabil 1962 43: 1-8

Egund N, Olsson TH, Schmid H, Selvik Movements in the sacroiliac joints demonstrated with roentgen stereophotogrammetry Acta Radiol Diagn 1978 19: 833-846

Hammer N, Steinke H, Sloik V, Josten C, Stadler J, Böhme J, Spanel-Borowski K The sacrotuberous and the sacrospinous ligament – A virtual reconstruktion Ann. Anat. 2009
May 3

Hefzy MS, Ebraheim N, Mekhail A, Caruntu D, Lin H, Yeasting R Kinematics of the human pelvis following open book injury. Med Eng Phys. 2003 25 4:259-74

Jacob HA, Kissling RO The mobility of the sacroiliac joints in healthy volunteers between 20 and 50 years of age. Clin Biomech (Bristol, Avon). 1995 10 7:352-361

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Linström NJ, Heiserman JE, Kortman KE, et al. Anatomical and biomechanical analyses of the unique and consistent locations of sacral insufficiency fractures. Spine. 2009 34 4:309–315

Miller JA, Schultz AB, Andersson GB Load-displacement behavior of sacroiliac joint J Orthop Res 1987 5: 92-101

Reynolds HM Three-dimensional kinematics in the pelvic girdle J Am Osteopathic Association 1980 80: 277-280

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Tullberg T, Blomberg S, Branth B, Johnsson R Manipulation does not alter the position of the sacroiliac joint. A roentgen stereophotogrammetric analysis. Spine (Phila Pa 1976). 1998 15; 23(10):1124-8; discussion 1129

Ulrich D, van Reitbergen B, Weinans H et al. Finite element analysis of trabecular bone structure: a comparison of image-based meshing techniques. J Biomech. 1998 31:1187–92

Wilke HJ, Fischer K, Jeanneret B, Claes I, Magerl F In-vivo-Messung der dreidimensionalen Bewegung des Iliosakralgelenkes. Z. Orthop. 1997 135: 550-556

Vleeming A, Stoeckart R, Volkers RC Relation between form and function in the sacroiliac joint. Part I: Clinical anatomical aspects. Spine 1990a 15: 130-132

Vleeming A, Volkers RC, Snijders CJ Relation between form and function in the sacroiliac joint. Part II: Clinical anatomical aspects. Spine 1990b 15: 133-136

Vrahas M, Hen TC, Diangelo D et al. Ligamentous Contributions to the Pelvic Stability. Orthopedics 1995 18: 271-274

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